Auf dem Lebensmeer…

… Nach all den Stürmen, die in letzter Zeit mein Lebensschiff gepackt, beinahe niedergerungen und an feindselig schroffen Klippen hätten zerschellen lassen, scheint es nun, als wäre es endlich wieder in ruhige Gewässer gelangt, als hätten sich die nachtschwarzen, entmutigenden, den Geist verdüsternden Wolkenwände verzogen, die tosenden und schmutzig schäumenden Brecher geglättet, als wären die tückischen Untiefen durchquert und das kürzliche waghalsige Manöver geglückt…

… Jetzt ist es Muße, denke ich, aufzuatmen und zu besinnen, die Segel flicken zu lassen und den üblen Riss im Hauptmast. Taue sind zu spleißen, der leck geschlagene Rumpf muss kalfatert werden. Doch ich lasse den Ausguck im Krähennest, in der höchsten Mastspitze, er soll acht geben, ob das, was sich da im Dunste an der Kimm abzuzeichnen beginnt, die Vorboten eines erneuten Unwetters oder Schönwetterwolken sind, oder gar ein anderes Schiff, das unverhofft meine einsame Reise kreuzt…

… „Fremder Segler, Steuerbord voraus!“…

… Es ist einer jener stolzen Klipper, die in jenen längst vergangenen Tagen, als Entdeckergeist und Abenteuertum eine ihrer Blütezeiten erreicht hatten, über die Weltmeere flogen, einer jener strahlenden, von Legenden umwobenen Viermaster, die, sobald sie einen Hafen anliefen, eine Unzahl Neugieriger am Pier sich drängeln ließen. Er trägt die Verlockung unendlicher Ozeane, im Nebel verborgener Horizonte mit sich, die Geheimnisse ferner Küsten, die Sehnsüchte wagemutiger Seelen, seinen Planken entsteigt der Duft edler Gewürze, die Takelage summt in der sanften Brise ein betörend schönes Lied, die verführerische Melodie unentdeckter Weiten und grenzenlosen, freien Lebens…

… Das fremde Schiff segelt nun in meiner Nähe, seine Silhouette ist schlank und edel und von großer Reinheit, und der kühn geschwungene Bug hebt und senkt sich voller Lebenskraft im Spiel der ruhigen See. Es ist nicht zu erkennen, wohin sein Kurs es trägt, doch das Spiel der bunten Wimpeln zwischen den weißen, sacht sich wölbenden Segeln ist heiter und erfüllt mit Zuversicht. Es kündet von klaren Wassern, von Wellen, deren Kämme funkeln wie Edelsteine, von zum Träumen einladenden Buchten, von einem Himmel, der so blau ist, dass Worte zu armselig sind, ihn zu beschreiben, von einer ruhigen und sicheren Fahrt, von grenzenloser Neugier auf ein neues Ziel…

… Es scheinen Schönwetterwölkchen zu sein, die mein Ausguck im Krähennest erblickt – und die ersten Anzeichen eines herzzerreissend schönen Sonnenuntergangs…

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Ein ungewöhnlicher Besuch…

Das Navi verkündete Kathi mit angenehmer Frauenstimme, dass sie an ihrem Ziel angelangt war. Direkt vor dem schmucken Einfamilienhäuschen in einem stillen Vorort einer Stadt in Mitteldeutschland fand sie einen guten Parkplatz für ihren Kleinwagen. Sie beobachtete einige Minuten das Anwesen, ließ die beschauliche sonntägliche Ruhe ringsum auf sich wirken, dann griff sie tief Luft holend nach dem braunen DIN-A-4-Kuvert auf dem Beifahrersitz und stieg aus.

Die schmiedeeiserne Gartenpforte war unverschlossen. Kathi schritt langsam auf dem mit grauen Steinplatten belegten Weg durch den üppig blühenden und gepflegten Vorgarten. An der Haustüre angelangt zögerte sie, nun doch etwas befangen und zweifelnd, doch dann gab sie sich einen Ruck und klingelte.

Sie hörte leise schlurfende Schritte, dann wurde die Tür geöffnet. Ihr Blick fiel auf eine zierliche, klein gewachsene, unscheinbar wirkende Frau gesetzten Alters. Das etwas breitflächige Gesicht mit den großen, harmlos blickenden, blauen Augen wurde umrahmt von kurz geschnittenen, leicht gewellten, dunkelbraunen Haaren, in denen einige silberne Fäden schimmerten.

„Ja?“

Kathi musterte ihr Gegenüber kurz forschend.

„Sind Sie Frau Ella Hegenberg?“

Die Angesprochene nickte.

„Bin ich in der Tat. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Mein Name ist Kathi Willmers. Ich bin Admin des Blogs *Buntes Einerlei – kleine Alltagsgeschichten*. Sie pflegen sich im Internet Orlanda zu nennen, und Ihr Blog heisst *Orlandas Gartenträume*, stimmt’s?“

Ella wurde kreidebleich. Ihrem ersten Impuls folgend wollte sie blitzschnell die Türe ins Schloss schlagen, doch Kathi steckte geistesgegenwärtig einen Fuß dazwischen. Ella wich einen Schritt zurück. Ihre Lippen bewegten sich tonlos, abwehrend hob sie die Hände. Kathi bewegte sich ein wenig auf sie zu, bis sie im Türrahmen stand.

„Sie belästigen mich seit über einem Jahr immer wieder mit sehr beleidigenden, rufschädigenden, verleumderischen und entwürdigenden Mails und Kommentaren. – Weiß Ihr Mann Raimund eigentlich, was sie im WWW so treiben? Mit welcher Hartnäckigkeit und Bosheit Sie versuchen, Menschen, die Sie im Grunde genommen gar nicht kennen, und die Ihnen noch nie etwas zuleide getan haben, das Leben zu vergällen?“

„Ich – ich – ich… Wie haben Sie mich gefunden?“

„Mit einigen wenigen Klicks, *Orlanda*. Ihre IP-Adresse hat mir Ihren Standort verraten. Und dann war nur mehr ein klein wenig Recherchearbeit nötig, um Ihren Klarnamen und die Anschrift heraus zu bekommen. – Haben Sie wirklich geglaubt, dass Sie anonym all Ihr Gift, Ihren Hass, Ihren Neid und Ihre Hetze verspritzen können? Sie hätten für Ihre Aktionen besser das Dark Net und den Tor-Browser nutzen sollen – aber dafür sind Sie wohl nicht gerissen und clever genug. – Und jetzt würde ich gerne Ihren Mann sprechen – er ist zuhause, nicht wahr?“

Ella war der Schweiß ausgebrochen und strömte in großen Tropfen über ihr von Angst, Bestürzung und Verlegenheit starr gewordenes Antlitz.

„Nein, bitte! Tun Sie das nicht! Bitte! Es – es tut mir so unendlich leid – ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist! Ich habe das doch alles gar nicht ernst gemeint! Bitte, entschuldigen Sie! Ich nehme Medikamente, und da bin ich manchmal nicht so richtig bei Sinnen, wissen Sie! Da habe ich so extreme Stimmungsschwankungen… Ich verspreche Ihnen hoch und heilig, dass ich Sie und Ihre Bloggerfreunde nie wieder kontaktieren und belästigen werde! Bitte, bitte, verzeihen Sie mir!“

Auf der Treppe, die links neben der Eingangstür nach oben führte, wurden Schritte laut. Ein hoch gewachsener, leicht korpulenter Mann mit sehr spärlichem Haarwuchs und einer John-Lennon-Brille auf der Nase kam vom ersten Stock herab.

„Haben wir nun doch Besuch, Ellie?“

Er erblickte Kathi. Sie löste sich von den inständig flehenden Blicken Ellas und wandte sich ihm zu.

„Hallo, ich bin Kathi Willmers, eine Internet-Bekannte Ihrer Frau.“

„Aha. – Jetzt lerne ich endlich einmal eine ihrer Mitbloggerinnen kennen. Sind Sie auch eine Garten-Expertin? – Wissen Sie, mir ist das gar nicht recht, dass sich meine Frau oft so intensiv mit ihrem Blog beschäftigt, wie sie das nennt. Sie sollte sich wieder mehr der realen Welt zuwenden, unseren Kindern, Enkelchen und mir, dem Haus und dem Garten, und unseren Bekannten und Freunden.“

Aus den Augenwinkeln nahm Kathi war, wie Ella zusehends in sich zusammensackte. Einen Augenblick lang empfand sie tiefes Mitleid mit ihr. Doch dann gewann der harte Wille, ihr Vorhaben jetzt bis zum Ende durchzuziehen, wieder die Oberhand. Sie reichte Raimund das große Kuvert, das sie in der Rechten gehalten hatte.

„Wenn Sie mal wissen wollen, was Ihre Frau im Internet so schreibt, dann sollten Sie einen Blick darauf werfen, was ich hier zusammengestellt habe. Es sind sogenannte Screenshots und Ausdrucke von Mails, Kommentaren und Blog-Beiträgen, die Ella im Laufe eines Jahres mir hat zukommen lassen.“

Sie nickte den Beiden mit versteinerter Miene zu und wandte sich zum Gehen.

„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntag. Auf Wiedersehen.“

Als sie ihr Auto erreicht hatte, hörte sie, wie die Haustür laut ins Schloss fiel. Sie wischte die schweißnassen und klammen Hände an den Hosenbeinen ab, startete rasch den Motor und fuhr aus der Parklücke.

In der Stadtmitte hatte sie ein Hotelzimmer gebucht. Sie stellte ihren Reiserucksack auf das Bett, machte zur Entspannung einen ausgedehnten Spaziergang durch die schmalen Gassen der historischen Altstadt mit ihren prachtvollen Fachwerkbauten, und ließ sich dann in einem gemütlichen Restaurant ein fein zubereitetes Abendessen schmecken. Kurz vor dem Zubett gehen rief sie ihren Lebensgefährten an.

„Wie schön, du lebst noch! Wie ist es gelaufen?“

Kathi schilderte ihm ausführlich die Begegnung mit Ella und ihrem Mann.

„Gut gemacht. Hoffentlich ist diese *Orlanda* im realen Leben nicht genauso beratungsresistent wie im WWW.“

„Glaube ich nicht. Und ich denke, dass mit ihrem Raimund nach der Lektüre der Absonderungen seiner Liebsten nicht grade gut Kirschen essen sein wird.“

Als sie am nächsten Morgen ihren Laptop hoch fuhr und auf die Suche ging, war Ellas Blog „Orlandas Gartenträume“ gelöscht worden. Kathi atmete tief auf. Endlich Frieden! Der Aufwand hatte sich gelohnt. Und würde Ella ihre grausamen Spielchen doch nicht lassen können, würde sie Anzeige erstatten. Beweismaterial hatte sie schließlich genug…

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Fotograf der Tränen…

Früh am Morgen ploppte die Meldung in meiner Timeline auf: In der schwer zugänglichen Bergregion eines südamerikanischen Staates war eine Linienmaschine abgestürzt. Suchtrupps des dortigen Militärs hatten die Unfallstelle bereits ausfindig gemacht. Man ging davon aus, dass niemand den Crash überlebt hatte. Da sich an Bord auch mehrere Deutsche befunden hatten, wurde eine Hotline eingerichtet. Ich gab mich als sorgenvoller Angehöriger aus und bekam nach wenigen Minuten bereits die Passagierliste per Mail zugeschickt. Volltreffer! Hartmund und Robert W. aus B., Brüder, höchstwahrscheinlich tot. Mittels Suchmaschine machte ich die Adresse der verwitweten Mutter am Rande eines in den Voralpen liegenden Dorfes ausfindig.

Der Kamerakoffer war schnell gepackt. Ich nahm meinen Assistenten mit, nicht gerade der Hellsten einer, und daher für meine Zwecke ausgesprochen nützlich. Schmier‘ ihm etwas Honig ums Maul, lob‘ sein fotografisches Talent, obwohl er einen Belichtungsmesser nicht von einem Hühnerei unterscheiden kann – und er frisst dir aus der Hand. So instruierte ich ihm auf der etwa einstündigen Hinfahrt mit viel Geduld, wie er sich zu verhalten und was er zu sagen habe.

Das Glück war mir aber so was von hold! Unauffällig am Straßenrand parkend konnte ich mühelos durch eine Lücke im Zaun, welcher den handtuchschmalen Vorgarten des bieder-gemütlich wirkenden Häuschens abgrenzte, mit dem starken Teleobjektiv die Haustüre anvisieren. Mein Helfer stelzte unbeholfen seine überlangen Streichholzbeine voreinander setzend über den terrakottafarbenen Plattenweg, stapfte die blitzblank gefegten Stufen hoch und klingelte. Nur wenig später wurde die Türe geöffnet. Eine Frau mittleren Alters trat aus dem Häuschen, hager, mit gebeugten Schultern, fahlgrauen, eingefallenen Wangen, trüben, dunkel umschatteten, tief in ihren Höhlen liegenden Augen. So etwas wie Hoffnung blitzte auf, und erlosch sofort wieder, als sie meines Assistenten ansichtig wurde. Gut. Aber noch nicht gut genug.

Ich lauschte, die Kamera so unauffällig wie möglich im Schoß haltend, der sorgfältig einstudierten Rede des Assistenten: „Guten Tag, ich hoff‘, ich stör‘ Sie nicht allzu sehr. Mein Name ist Ulf Berger, ich bin ein ehemaliger Schulkamerad vom Robert, und wollt‘ mich nur mal kurz erkundigen, ob er wohlauf ist.“ Das Weib brach zusammen, sie stieß einen tierhaften Wehlaut aus, schlug aufschluchzend die Hände vors Gesicht. Mein Hiwi sagte leise etwas zu der Weinenden, sie ließ die Hände sinken und sah zu ihm auf. Das war’s! Jawohl! Was für ein Ausdruck! Welch ein Schmerz, welche Gram, was für eine ohnmächtige Trauer in diesen zerfurchten, vorzeitig gealterten Zügen! Dank der Serienbildeinstellung schoss meine Kamera binnen kurzem ungezählte Fotos. Ein Manifest des Leidens war dieses Frauengesicht! Ich konnte gar nicht genug davon bekommen…

… Nur wenig später zierte mein ausgewähltes Foto die Titelseite einer viel gelesenen Tageszeitung. Der ursprünglich vorgesehene Leitartikel über die Schlupflöcher im neuesten Gesetz gegen Steuerhinterziehung war auf eine der hinteren Seiten verbannt worden. Sich als anonyme Gaffer an der hilflosen Qual von Schicksalsschlägen unvermittelt Getroffener weiden zu können, erfreut sich seit Urzeiten schon weitaus größerer Beliebtheit, bringt weitaus mehr Klicks und Geld, als eine gut fundierte Kritik über die Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten der großen Politik…

… Ich war ein gemachter Mann, ich hatte für das Konterfei der Witwe eine ansehnliche Summe eingestrichen. Doch in wenigen Tagen nur wird ihr Bild bereits verblasst, vergessen sein. Und ich werde als Leidens-Schacherer wieder auf die Nachricht über die nächste Katastrophe, das nächste Unglück in meiner Timeline warten…

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Die gar schaurige Gschicht vom Wiesn-Geist – Teil 3…

Diese Nacht verlief außergewöhnlich ruhig. Nur bisweilen hatte es den Anschein, als würde eine einsame, knochige, in eine zerfranste Schlierseer Tracht gewandete Gestalt mit einem von einer Spielhahnfeder gezierten grünen Filzhut auf dem ausgemergelten Schädel leise vor sich hin stammelnd und schluchzend ziellos durch die Reihen der Buden, Zelte und Fahrgeschäfte streifen.

Vierundzwanzig Stunden später tastete sich eine gebeugte, leicht mollige Frauengestalt an Katharinas Seite Richtung Kinder-Eisenbahn. Die Geisterkathl stützte die gut achtzigjährige Brandner Rosl sanft, als die Nacht sich teilte und den Umriss vom Hinterstoißer Bene frei gab. Die Greisin löste sich aus der sanften Umarmung und schritt langsam auf den Wiesn-Geist zu.

„Bene, liabsta Bene!“

Das schemenhafte Wesen begann zu zittern und zu beben und zu wehklagen: „Sag des doch ned! Des is doch g’logn! Du hast mi gar nia ned liab ghabt! Sonst hätt’sd doch ned so bald nach meim Tod den Brandner Gustl g’heirat!“

„Bene, Bene! I hab doch gar ned anders kenna! I hab doch dafür sorgn miaßn, dass unser beider Bua, den i unterm Herzn tragn hab, an anständign Nama kriagt! Was moanst denn du, wia’s um unser Kind b’stellt gwesn war, wenn i’s alloa hätt aufziagn miaßn. Mei Liab zu dir hod ned oa Sekund lang aufghört! Mei ganz Lebn lang hab i immer an di denkt! Immer wenn i unsern Buam, den Bene, der dir wia obag’rissn gleich schaut (wie ein Ei dem andern gleicht), oschaug’, dann siag i seid fast sechzg Jahr’ di! – Enkel hamma, und Urenkel, Bene, a ganze Schar, san ois Buam und Madln, auf die’s stolz sei konnst! – I hob koa leichts Lebn ghabt mit’m Gustl, obwoi er se allerweil Müah gebn hot, und koa schlechter Mo gwesn is. Mei Liab zu dir, zu unserm Sohn, zu unsere Kindeskinder, hot mi ois ertragn lassn, ois, wos as Schicksoi mia aufbürd’ hot.“

„Is des wahr, Rosl?“

„Bei meiner Seel’, a jeds Wort!“

„Rosl, mei herzallerliabste Rosl, du machst ma so a himmlische Freud’! Jetzt ko’ i endlich, endlich in Friedn und Ruah in die andre Welt eini geh’!“

Der alten Brandner Rosl war, als streiche eine kühle Hand ganz, ganz sanft über ihre eingefallene, runzlige Wange, als würde sie an ihrem Ohr ein zärtliches Flüstern vernehmen: „Mach’s guat, mei liabs Madl, i wart auf di im Paradies.“

Ein letzter erlöster Seufzer, dann entschwand der Wiesn-Geist und ward nie wieder gesehen…

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Die gar schauerliche Gschicht vom Wiesn-Geist – Teil 2…

Am nächsten Tag fand sich bei Einbruch der Dämmerung eine bemerkenswerte, kleine, zierliche Person mittleren Alters im spartanischen Wiesn-Refugium des Hauptkommissars ein: Katharina Brenninger, seine Kusine. Nach dem frühen Tod ihres Mannes, tragische Auswirkung seiner zahlreichen und intensiven Alkoholexzesse, hatte sie entdeckt, dass ihr übersinnliche Kräfte innewohnten. In ihrem heimatlichen Bergdorf war sie als „Hex von da Gmerk“ verschrien, doch sobald die nahende Dunkelheit das Häufchen versprengter Bauernhöfe, ein kleines, düsteres Wirtshaus, sowie das schmucke Barockkirchlein umfing, pflegten sich die Dörfler verstohlen an die Hintertür ihres kleinen Anwesens zu schleichen. Niemand konnte so gut Warzen besprechen, Kräutertinkturen brauen und gar mit Verstorbenen Kontakt aufnehmen wie sie. Weit über die Grenzen des Landkreises hatte sich mittlerweile ihr Ruf verbreitet, neulich soll sogar jemand aus dem fernen Amerika sie um Rat und Hilfe ersucht haben.

Stefan Brenninger bat darum, auf gar keinem Fall die nächste Zeit über gestört zu werden. Dann führten die Beiden ein sehr langes und ausführliches Gespräch. Endlich erhob sich die „Geisterkathl“ aus ihrer buddhagleichen Haltung von der alten, durchgesessenen Couch, die dem Büro-Container wenigstens einen kleinen Hauch Gemütlichkeit verlieh, streckte sich und bat den Hauptkommissar um einen Rundgang. Mit weit von sich gestreckten Händen, die Finger mit den künstlichen, kunterbunten Kunstwerken gleichenden Nägeln wie Wünschelruten gespreizt, bahnte sie sich gleich einer von unsichtbaren Fäden gelenkten Marionette ihren Weg, die Massen mehr oder weniger Angeheiterter geschickt umkurvend. Der Abendwind zauste ihre silberne Kurzhaarfrisur und bauschte ihr knöchellanges, kaftanähnliches, mit einem violetten Batikmuster verzierte Gewand. So durchzogen die Beiden konzentriert Gasse für Gasse, bis Katharina mit einem Ruck vor dem Kassenhäuschen eines kleinen Fahrgeschäfts inne hielt.

„Da kimmt er heit Nacht.“

„Kathl, mia san jetzt bei da Kindereisenbahn in da erstn Schausteller-Gassn.“

„I woaß. Und da geh i nachad wieda hi. Wenn’s stad is. Und zwar alloa.“

Voller Bestimmtheit reckte sie ihr rundliches, mit einem Grübchen verziertes Kinn. Brenninger nickte langsam. „Wenn’st moanst.“, knurrte er und nahm sich ganz fest vor, sich in der Nähe mit einem bewaffneten Polizeitrupp zu verstecken.

Ihre drahtige, schlanke Gestalt ruhte etliche Stunden später gelassen doch überaus konzentriert in einem der kleinen Wägelchen, die untertags eine Märchenlandschaft voller überdimensionaler Disney-Figuren und einen munter sprudelnden Springbrunnen umkreisten. Wolkenfetzen trudelten über einen klaren, sternengesprenkelten Himmel, eine kühle Brise, Vorbotin der kalten Jahreszeiten, liebkoste ihr kindliches, scheinbar altersloses Gesicht und brannte in ihren großen, bernsteinfarbenen Augen. Als sie den unruhigen Schemen mit ihrem sechsten Sinn wahrnahm, erschauerte sie kurz, fasste sich aber sogleich wieder. Das jenseitige Wesen kam bedrohlich und dunkler als die Nacht auf sie zu. Die „Geisterkathl“ verharrte gelassen, Ruhe und Frieden ausstrahlend.

„Brauchst ned moana, dass du mia Angst ei’jagn konnst. Du bist nämlich koana von de Bösn, du gwiss ned. Aba wissn dat i scho ganz gern, was di allerweil während da Wiesn gar a so umtreibt.“

Da zog ein abgrundtiefer, zerquälter Seufzer über die lustig bunten Zipfelmützen der Disney-Zwerge hinweg und der Geist sank neben der Kathl zu Boden.

„In meine jungen Jahr’ – is scho gar so lang her – bin i, da Hinterstoißer Bene aus Hausham, so unbandig in die Heizinger Rosl verliabt gwesen. Und weil i halt a recht hitziger und kräftiger Bursch gwesen bin, wollt i beim Oktoberfest a bisserl vor ihr o’gebn, und zwar beim Haut-den-Lukas. Und da hab i vor lauter Überschwang dermaßn stark drauf ghaut, dass des Gwicht obn naus gschossn is und mi derschlagn hat. Des is so schnell ganga, dass i gar koa Zeit ned ghabt hab, um auf’d Seitn z’hupfa. – Und kaum dass i unter da Erdn gwesn bin, mei Leich is no ned amoi richtig koid gwesn, hat se mei liabe Rosl mit’m Brandner Gustl vom Eidinger Hof ei’glassn und hat eahm g’heirat’! Fünf Minutn vor meim Ablebn hat’s ma no d’ewige Liab gschworn. Und seitdem treibt mi des allerweil zur Wiesnzeit um und lasst ma koa Ruah ned!“

Und das schauerliche Geschöpf barg das fahle, zerfurchte, geisterhaft durchscheinende Haupt in den Händen und stöhnte und heulte zum Steinerweichen.

Oana geht no – ein dritter Teil folgt demnächst… 😉

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Die gar schauerliche Gschicht vom Wiesn-Geist – Teil 1…

Die Wirte und Schausteller vom Münchner Oktoberfest waren’s ja seit Jahren schon gewohnt und nahmen es zumindest halbwegs mit Gelassenheit: Des Nachts schien auf dem größten Volksfest der Welt „etwas umzugehen“, wie man hierzulande zu sagen pflegt. Mal ertönte in der Finsternis das raue Tuten einer Achterbahn, die Beleuchtung des Riesenrads erstrahlte kurz und verlosch dann wieder, oder es war beim Schichtl das gar schauerliche Geräusch des Fallbeils zu vernehmen. War man Opfer des seltsamen Treibens geworden, dann wurde halt am nächsten Morgen ein Kundendienstler bestellt, der sich kurz die elektrischen Anlagen bzw. beim altehrwürdigen Schichtl den geheimnisvollen Mechanismus der Guillotine besah, um anschließend mit den Schultern zuckend zu brummeln: „Da is nix hie (kaputt). Des is’ wahrscheinlich bloß a kloana Spannungsabfall oder a Ratz (Ratte) oder a Maus gwesn, so was koo scho moi virkemma (vorkommen).“ Danach wurde dem guten Mann ein Weißwurstfrühstück samt Russenhalbe (Mischung aus Weißbier und Limo) serviert oder man drückte ihm einige Biermarken, Hendlgutscheine, eine große Tüte gebrannter Mandeln oder Freifahrt-Chips für diverse Fahrgeschäfte in die Hand, um anschließend zum gewohnt hektischen, die Nerven aufreibenden Tagesgeschäft überzugehen, während die bleiche, durch die letzten Schwaden Morgennebels etwas zerfranst einher kommende Sonne sich hinter den Spitzen, verwinkelten Graten und Zacken der Paulskirche hervor in den zunehmend klar werdenden, tiefblauen Herbsthimmel schob.

Jetzt aber hatte die Wiesn 2009 nach dem routinierten Anstechen des ersten Fasses Bier durch den Oberbürgermeister ihren Anfang genommen, und eine weltweit gefürchtete Terrororganisation Anschläge unter anderem auch auf das spektakulärste aller Volksfeste angedroht. Hunderte Polizist:innen hatten jeglichen Zugang zu den Bierzelten, Buden und Fahrgeschäften abgeriegelt, kontrollierten akribisch unzählige Handtaschen und Rucksäcke, führten Leibesvisitationen durch, sie filzten nicht grade zur Erbauung der Schausteller und Wirte die Fahrzeuge der Zulieferer, sogar berittene Beamte patrouillierten die Straßen und Gassen der Zeltstadt auf und ab.

Bereits während der ersten Nacht wurde in der Sicherheitszentrale nahe des Behördenhofes Alarm ausgelöst, im sorgsam verriegelten Stand einer alteingesessenen Schaustellerfamilie hatten auf dem Ofen beide blitzblank gescheuerten Kupferkessel zu rotieren begonnen, und die bunten Lämpchen der Giebelbeleuchtung flackerten eine Weile lang unstet ein und aus, ein und aus. Als sich ein Trupp Polizisten mit bereit gehaltenen Waffen heranpirschte, bot sich ihnen die kleine Hütte jedoch wieder dunkel, still und friedlich dar.

Ein besonders perfider Schabernack ereignete sich nach dem ersten Wiesn-Sonntag. Die Boxen der turmhohen, muskelbepackten, bildschönen Kaltblüter im nahen Zirkus-Krone-Bau, die in Sechsergespannen die Schauwägen der großen Münchner Brauereien durch die Straßen und Gassen der „Intersuff“ zu ziehen pflegen, waren zu nachtschlafender Zeit geöffnet und die ansonsten so nervenstarken Rösser verwirrt ins Freie gestoben. Das Klippediklapp der eimergroßen Hufe hallte rhythmisch von den Hauswänden der träumenden Stadt wieder. Es dauerte Stunden, bis die vierbeinigen Ausreißer wieder wohlbehalten in ihren Quartieren standen. Zum Glück kamen weder Mensch noch Tier zu Schaden!

Wie das Stakkato einer Maschinengewehrsalve schossen laut knallend zu Beginn der zweiten Wiesnwoche hunderte Korken aus den Champagnerflaschen im einer sorgsam gesicherten Schatzkammer gleichenden Kühlraum jenes einer Almhütte ähnelnden Zeltes, welches bevorzugt den Schicki-Mickis, allerlei Berühmtheiten und sogenannten A-dabeis (sich ganz wichtig fühlende Promi-Mitläufer) als Einkehr zu dienen pflegt. Die schwarzledernen Stiefel der Einsatzkräfte patschten durch einen schier knöchelhohen See golden sprudelnden, sündhaft teuren, französischen Schaumweins. Ein Verlust von vielen tausend Euro für den Wirt, der sich seit vielen Jahren schon als Feinkostpapst der Weltstadt mit Herz gerierte.

Hauptkommissar Stefan Brenninger schüttelte ratlos das mit breiten grauen Strähnen verzierte dunkelbärtige Haupt. Sein Assistent fuhr sich durch die gelockte, mit viel Sorgfalt zurecht gegelte Pseudo-Hippiemähne.

„So a Sauerei! Schaut so aus, als ob ma schon wieda a schlaflose Nacht haben werdn. Und nia dawisch ma wen! Und ned die geringsten Fitzerln von verwertbaren Spuren hamma bis jetzt gfundn! Wia a Spuk is des! Ois ob a narrischer Geist umgeh dat.“

Und da fuhrwerkte eine überaus aberwitzige und schräge Idee durch die Hirnwindungen des Chefs. Brenninger furchte mit seinen langfingrigen Händen durch den dichten Bart, bis dessen Wellen in sämtliche Himmelsrichtungen standen und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Aber der irrlichternde Gedanke, sowie die undeutlichen Erinnerungen an hinter vorgehaltener Hand beim feuchtfröhlichen Abend geflüsterte Andeutungen etlicher Wirtsleut, Standl- und Fahrgeschäftbetreiber ließen einer Klette gleich nicht mehr von ihm ab. Er zog sich in sein Büro zurück und telefonierte eine Weile sehr emsig…

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Für immer…

… An sich hatte sie überhaupt kein Faible für Parfums und fand die Schwärmereien vieler Frauen für teure Duftwässerchen lächerlich. Sie benutzte zur täglichen Pflege lediglich eine aromatische Körperlotion und das dazu passende Deo, nur zu besonderen Gelegenheiten tupfte sie sich sehr sparsam einige Tröpfchen „Herba Fresca“ von Guerlain hinter die Ohren…

… Von einer besonders liebenswürdigen Kundin bekam sie eines Tages einen winzig kleinen Flakon mit einem Parfum namens „Für immer“ geschenkt. Lange Zeit fristete das seltsam geformte Fläschchen ein unbeachtetes Dasein in ihrem Toilettenschrank. Eines Abends, als sie sich mit Freunden verabredet hatte, benetzte sie eher halbherzig und ohne große Begeisterung ihre Ohrläppchen, die Innenseite ihrer Handgelenke und den Ansatz ihres Dekollete. Der Duft, welcher sich ihr in die Nüstern stahl, war überwältigend, von feinherb-fruchtig bis verführerisch-samtig. Er fesselte ihre Sinne, ihren Geist, und erschwerte ihr die Teilhabe an den lockeren und heiteren Gespräche ihrer Vertrauten…

… Nach bleischwerer Nacht schlug sie am nächsten Morgen die Augen auf. Nur wenig später wurde sie von der innigen, nach wie vor intensiven Geruchswolke umhüllt – „Für immer“. Hatte sie sich nicht vor dem Zubettgehen gestern sehr gründlich geduscht und auch die Haare gewaschen? Was für eine ungewöhnliche Intensität dieses Parfum doch immer noch hatte!…

… Nach einer Woche fielen ihrer Arbeitskollegin die geröteten, stark geschwollenen Ohrläppchen und wund gescheuerten Stellen am Brustbein und den Handgelenken auf. „Für immer“. Immer noch so hartnäckig und nicht zu vertreiben! Alles Scheuern, Reiben, Waschen half nichts! Sie konnte ihrer täglichen Arbeit kaum mehr konzentriert nachkommen, ein innerer Zwang drang sie dazu, alle halbe Stunde aufzuspringen und den Waschraum aufzusuchen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, nur eine kurze Weile später vergewaltigte das überwältigende, penetrante, störende, peinigende, quälende Aroma erneut ihre Sinne…

… Nach langen Wochen wurde sie durch Zufall von einer Nachbarin im Badezimmer gefunden, blutüberströmt, dem Tode nahe. Sie hatte verzweifelt versucht, sich mit einem scharfen Küchenmesser die Ohrläppchen und etwa handtellergroße Stücke Fleisch zwischen dem Ansatz ihrer Brüste und den Innenseiten ihrer Handgelenke abzuschneiden…

… Die Operation hatte eine Weile in Anspruch genommen. Die Stationsschwester kam in den Aufwachraum, sah, dass die Patientin das Bewusstsein wieder erlangt hatte und nahm ihr die Sauerstoffmaske vom Gesicht. Nur Augenblicke danach vergewaltigte das überwältigende, penetrante, störende, peinigende, quälende Aroma erneut die Sinne der jungen Frau. Sie begann zu schreien und an den Verbänden zu zerren: „Weg! Weg! Nimm es doch endlich weg von mir! Nimm es doch endlich weg von mir! Verfluchtes ‚Für immer‘!“…

… Nachdem sie in eine psychiatrische Klinik überwiesen worden war, bekam sie Besuch von einer Arbeitskollegin. Sie war mit Fesseln an ihr Bett fixiert worden, ihre Augen stierten mit einem Grauen erregenden Ausdruck des Wahnsinns an das mattweiße Plafond. Aus einem Mundwinkel rann ihr ein dünner Faden Speichel. Für Sekunden kam sie zu sich und es war ein leises Lallen zu vernehmen: „Weg – weg – nimm es doch endlich weg, verfluchtes ‚Für immer‘.“…

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A haarige Gschicht…

Als Kind war ich ein Wildfang und hatte so gar nichts mit einem gesitteten und gepflegten Mädchen gemein. Meine einzige Puppe, eine Barbie, hielt meinen Grobheiten nicht lange stand, für hübsche Kleidchen und schicke Schühchen hatte ich nichts übrig. Am liebsten strolchte ich in mehr oder weniger verschmutzten und ausgefransten Jeans, Shorts, T-Shirts und Pullovern herum, in ausgelatschten Turnschuhen oder fürchterlich ramponierten Cowboystiefeln. Ich tobte bevorzugt mit einer Jungens-Clique aus der Nachbarschaft durch die Wälder und die Auen entlang der Königsseer Ache. Das einzig sichtbare weibliche Merkmal waren zwei nahezu armdicke Zöpfe, die mir bis über die Hüften fielen. Meine Mutter plagte sich allmorgendlich eine halbe Stunde lang, bis sie die wilde und dichte Mähne entwirrt und wieder propper geflochten hatte. Mir trieben die harten, zahllosen Bürstenstriche oftmals viele, viele Tränen in die Augen. Dies war aber nicht der einzige Nachteil der Haarpracht. Spielten wir Cowboy und Indianer, musste ich es mir in der Regel gefallen lassen, an den Marterpfahl gefesselt zu werden, eine Baumruine, in die vor vielen Jahren der Blitz eingeschlagen hatte, die Oberfläche des Stammes war völlig rindenlos, und von Wind und Wetter so glatt wie die Haut eines Pfirsichs geschliffen worden, und wenn man ein Ohr daran legte und die Luft anhielt, konnte man im Inneren Käfer und Holzwürmer werkeln hören. Auch wenn wir Winnetou von Karl May in Szene setzten, kam ich schlecht weg, da ich die Schwester des großen Häuptlings darstellen musste – und die segnet ja bekanntermaßen ziemlich bald das Zeitliche.

Doch dann kam mir eines Tages eine Idee. Und zwar auf dem Schulhof während der großen Pause. Da stand ich, mein Wurstbrot mümmelnd, inmitten einer Schar kichernder und gackernder Klassenkameradinnen, die sich übertrieben und sehr seltsam in den Hüften wiegten und kokett ihre toupierten Schöpfe schüttelnd flöteten: „Hach, ja, i muaß ma jetzt aa moi wieda die Haarspitzn nachschneidn lassn, de werdn allaweil so schnell brüchig.“ Dabei schielten sie unablässig zu den Jungs hinüber, die sich in einer nahen Ecke zusammengerottet hatten. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was das bezwecken sollte. Jungs waren zum Toben, Raufen und Spielen gut. Ansonsten… Ausnahme war mein bester Freund und Blutsbruder Wummi. Wir standen uns seit der gemeinsam verbrachten Sandkastenzeit so nahe, da hätte kein Blatt Papier dazwischen gepasst.

Nach der Schule bettelte ich meine Mutter um zehn Mark an.

„Wofür brauchstn so vui Geld?“, wollte sie misstrauisch wissen. Ich wiegte mich übertrieben und seltsam in den Hüften, schüttelte kokett meine zentnerschweren Zöpfe und flötete: „Mei, i möcht ma halt aa moi die Haarspitzn nachschneidn lassn, vielleicht san’s scho ganz brüchig.“

Sichtlich erleichtert, dass offensichtlich endlich ein weiblicher Zug in mir zum Vorschein kam, händigte Mutter mir den Schein aus. Wie immer kam ich nicht umhin, ein Weilchen stumm verträumt die auf der Rückseite mit vollen Segeln abgebildete Gorch Fock zu bewundern, dann jedoch setzte ich mich in Trab und suchte den nächst gelegenen Friseurladen auf.

„Naaaa, des moanst aba jetzt ned ernst! Die scheena Zöpf! – Ganz abschneidn? Und an Bubikopf magst ham?“ Mit trotzig erhobenem Kinn bejahte ich. Zu meinem Pech hatte ich Mutters Stammfriseuse erwischt, welche ihr jeden Freitag die Haare legte, und die sich nun wider Erwarten gehörig zierte.

„Ja, woaß dei Mama des aa?“

„Freilich!“

Zum Glück hatten wir seinerzeit noch kein Telefon. So musste die gute Frau letztendlich tun, wie geheißen. Ach, was genoss ich die unvermittelte „Schwerelosigkeit“ meines Hauptes, als die amputierten Zöpfe zu Boden geplumpst waren. Und diesen kühle Luftzug am Nacken! Es war ein Segen! Ich schloss tiefseufzend die Augen und gab mich ganz diesen noch nie verspürten Sinnesfreuden hin.

Mutter schimpfte anfangs gehörig. Doch binnen weniger Tage musste sie einsehen, dass sich nunmehr das Leben für uns Beide enorm leichter gestaltete. Wir konnten eine halbe Stunde länger schlafen und um meinen Kurzhaarschnitt zu pflegen, genügte im Grunde genommen ein Waschlappen.

Der Wummi war ganz begeistert: „Uih! Des schaut toll aus! Jetzt konnst endlich aa moi den Old Shatterhand spuin!“

Jawoll! Und Fußball! Nun konnte ich so richtig vom Leder ziehen, ohne dass ich’s mir gefallen lassen musste, ständig an meinen Zöpfen gezogen zu werden. Das galt nämlich nicht als Foul, weil das nirgendwo in den Regeln verzeichnet war.

Ich war eine sehr gute Spielerin, hoch gewachsen, sehr schlank, was mir an Wendigkeit fehlen mochte, machte ich mit meiner enormen Schrittlänge wett. Auf unserem Bolzplatz nahe der Schule stürmte und dribbelte ich regelmäßig die Jungs in Grund und Boden.

„Woaßt was,“, meinte der Wummi eines Tages, „du konnst ja moi mit mir zum Fuaßboi-Training gehn. An guatn Stürmer kennan ma allerweil brauchn. Bei uns in da Berchtesgadner E-Jugend kennt di koana, da gehst leicht ois Bua durch.“

Gesagt, getan, der Wummi stellte mich als Zuagroastn (neu Hinzugezogener) namens Markus vor. Was soll ich sagen – ich war der Hit! Der Trainer war völlig hin und weg! Ich spielte Fußball wie ein junger Gott – ähem – eine junge Göttin.

„Wennst so weida machst, dann bist bald so guat wia da Pele.“, rühmte mich der gute Mann nach einer Weile, und seine Pranke, die so groß war wie ein Grundstück, krachte auf meine Schulter nieder. Voller Stolz blähte sich meine noch völlig flache Brust. Erst recht, als er mir mitteilte, dass ich beim nächsten Turnier als Stürmer(in) aufgestellt sei. Ich konnte mein Glück kaum fassen.

Doch dann geschah es leider, dass ein Spezl namens Franz, den wir im letzten Sommer beim Pokern abgezockt hatten, weil er nämlich eine sehr dicke Brille getragen und sich sein Blatt in den Gläsern gespiegelt hatte, und wir diesen unfairen Vorteil schamlos ausgenutzt hatten, ebenfalls zur E-Fußballjugend kam – nach einer langwierigen Augenoperation brauchte er nun kein „Nasenfahrrad“ mehr. Irgendwie muss er Wummi und mir diese leidige Pokergeschichte noch nicht verziehen haben, er hängte mich beim Trainer hin, nachdem er mich mit einem schier todbringenden Blick von oben bis unten gemustert hatte: „Des is a Dirndl! De hoaßt Martha und ned Markus, und ist die Tochter vom Lehrer…!“ Somit fand meine Fußballkarriere ein sehr vorzeitiges Ende, mit vollstem Bedauern wurde ich aus der Mannschaft entlassen…

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Der Königssee-Indianer

Er war von mittlerer Größe, eher schmächtig, doch an den Oberarmen, den Beinen und auf der Brust wölbten sich ausgeprägte Muskeln. Seine ursprüngliche Herkunft hatte er verdrängt, konnte sich ihrer nicht mehr erinnern. Er war sehr schweigsam, in den seltenen Gelegenheiten, in denen er mal das Wort ergriff, erzählte er, ein Indianer zu sein, und dass seine Seele nach wie vor bei den Mitbrüdern im Wilden Westen weile. Während der Sommermonate lebte er in einer abgeschiedenen Höhle inmitten des Bergwalds zwischen dem Malerwinkel und dem Königsbachfalls an der Südostseite des Königssees. Das Haar trug er im Irokesenschnitt, am Hinterkopf geschmückt mit Federn, welche er einem Steinadler, die in den Schroffen der Reiteralpe horsteten, aus dem Nest stiebitzt haben wollte, seine Haut war bronzebraun verbrannt. Das einzige Kleidungsstück während der warmen Jahreszeiten war eine lederne Leggins mit Fransen an den Seiten, auf dem Rücken hingen stets ein handgeschnitzter Bogen und ein Köcher mit gefiederten Pfeilen darin. Seinen Streifzügen durch die Wälder Berchtesgadens fielen auch schon mal ein Reh oder einige Wildhasen zum Opfer, doch der Förster drückte gutmütig sämtliche Augen zu. In unregelmäßigen Abständen ließ der Sonderling sich kurz im Wirtshaus St. Bartholomä auf der Halbinsel im Königssee blicken, dies war seine Postadresse. Er pflegte Brieffreundschaften mit mehreren echten Indianerhäuptlingen, was uns Kindern natürlich ungemein imponierte.

Hielt die Kälte Einzug in den Talkessel, gab er sein Höhlenbiwak auf und verdingte sich beim alten Stangassinger in Berchtesgaden, dem besten Lederhosenschneider weit und breit. Dort lebte er dann in einer kleinen Kammer, die statt eines Fensters lediglich eine winzige Luke auf den handtuchschmalen Hinterhof hatte, und verdingte sich mit Gerberarbeiten ein paar Mark. Man nannte ihn – wie auch sonst – den Indianer, und wenn er durch den Ort schlenderte, pressten die Erwachsenen die Lippen aufeinander, packten uns fest an den Händen und wechselten die Straßenseite. Er passte nicht ins gängige Bild, er war kein Normal- oder boshafter ausgedrückt Spießbürger, und dies – so schien uns Kindern – machte den Großen irgendwie Angst.

Wir hingegen vergötterten ihn schier, wir waren in den Wäldern aufgewachsen und bei unseren unermüdlichen Streifzügen über Stock und Stein hatten wir schon bald sein Refugium in der kleinen Höhle entdeckt. Wir wussten, dass er ein freundliches Herz hatte, dass seine kindliche Seele so etwas wie Häme, Falschheit, Neid und Bosheit nicht zuließ. Wir verbrachten lange Nachmittage an seinem sorgsam gehüteten Lagerfeuer und überboten uns im Geschichten erzählen, während der Indianer friedlich seine Pfeife paffend geduldig lauschte. Hier durften wir all unserer Phantasien freien Lauf lassen und so manches Mal verwandelte sich der heimelige, lichtdurchflutete Hain in einen finsteren, undurchdringlichen Urwald, in dem wilde Tiere und Fabelwesen hausten…


… Im Finanzamt Berchtesgaden herrschten seit schier undenklichen Zeiten zwei Beamte, die weder miteinander verwandt noch verschwägert waren, sich aber dennoch fast wie ein Ei dem anderen glichen. Sie waren mehr Gemütsmenschen denn sture Staatsdiener, mit recht ansehnlich gewölbten „Knödelfriedhöfen“, barocken Pausbäckchen und leicht geröteten, gut entwickelten Riechkolben, die darauf schließen ließen, dass sie schon manch einen guten Tropfen und eine anständige Pris‘ Schmeizler (Schnupftabak) zu würdigen gewusst hatten. So thronten sie in ihrem Büro einträchten hinter wuchtigen Schreibtischen und lenkten die steuerlichen Geschicke der Einwohner. Vor etlichen Jahren wurden sie von der obersten Instanz ob ihrer Säumigkeit zu einer Art Inventur sämtlicher Steuerdaten des Landkreises verdonnert, was die Zwei natürlich unangenehm ins Schwitzen brachte.

Der Gust wedelte mit einer dünnen Akte: „Steuernachzahlung H. Pedersen. Kennst du den vielleicht? Is des a Zuagroasta (Zugezogener)? Schlosswirtschaft St. Bartholomä. Ham die an Koch namens Pedersen? – Pedersen – Hm. – Wastl, hast du a Idee, wer des sein könnt‘?“

„Ja, des is doch da Indianer.“

„Ah, geh! Der hoaßt Pedersen? Des hätt‘ i nia ned gwusst!“

„Des woaß der wahrscheinlich selber ned. – Steuern soll der nachzahln?“

„Hm. Ja. Und des höchstwahrscheinlich ned zu knapp, so wia i des grad im Kopf überschlag.“

„So a Schmarrn. Des is doch eh so a armer Hund, der hat a bisserl a Schraube locker, is aber völlig harmlos. Der verdient doch bloß im Winter a paar Lutscherln beim Stangassinger, und wenn mia vom Fiskus den jetzt in da Reissn (Mangel) habn, dann werd der für den Rest seines Lebens nimmer froh. Verstehst, was i moan?“

Der Gust nickte und ließ mit einer eleganten Handbewegung die Akte H. Pedersen unter einem riesigen Stapel abgelegter Formulare verschwinden. Kurz darauf wurden die beiden Beamten in Pension geschickt. Dank ihrer großen Beliebtheit durften sie sich viele Jahre lang eines geruhsamen und geradezu opulenten Ruhestands erfreuen…


… Eine Frau Rosalinde Boentner-Strehlingen, eingewandert aus dem Hohen Norden, eine zielstrebige und höchst penible Karrierebeamtin ersten Ranges, nahm nach der Ära von Gust und Wastl die Zügel des Finanzamtes in ihre eisernen Hände. Das erste ihrer hehren Ziele, die sie sich gesteckt hatte, war das Übertragen sämtlicher Daten und Akten in den nagelneu angeschafften Computer. Und dabei grub sie auch die Steuernachzahlung H. Pedersen aus…


… Der mit den Jahren stark ergraute Indianer hatte eigentlich einen Brief des Navajo-Häuptlings Leuchtende Feder erwartet, statt dessen drückte ihm der Wirt der Schlossgaststätte St. Bartholomä stirnrunzelnd einen eingeschriebenen Wisch mit höchst amtlich aussehenden Stempeln in die schwielige, dunkelbraune Hand. – Der Dschungel der Finanzgesetze ist so unergründlich, tückisch und trügerisch, dass selbst ein äußerst intelligenter Altbundeskanzler dereinst zugab, darin zu verzweifeln. Frau Boentner-Strehlingen hatte sich einen nur von ihr nachvollziehbaren, verschlungenen Pfad durch dieses verfilzte und düstere Dickicht gebahnt und beim Tanze ihrer flinken Finger über die Tastatur ihres blitzblanken, klobigen Computers eine Steuerschuld des Herrn H. Pedersen von mehreren tausend Mark errechnet. Dies traf den Indianer bis ins Mark.

Selbst ein derart zurück gezogen lebender Mensch verfügt über gewisse Kontakte und Beziehungen, so auch zu einem pensionierten Sprengmeister, einem sehr guten Freund aus längst vergangenen Zeiten.

Es war eine nebelverhangene, schwüle Spätsommernacht, kein Lufthauch regte sich. Es war Neumond, die Straßen menschenleer, die Lichter Berchtesgadens waren längst schon wie die Bewohner zur Ruhe gegangen. Eine gebückte, halbnackte Gestalt schlich ums klotzig aufragende Finanzamt, brach ab und zu mit Hammer und Meißel Mauerstücke aus dem Fundament, stopfte Dynamitpatronen hinein und verband das Ganze sorgfältig und geschickt mit Drähten. – Als H. Pedersen hinter einem nahen Gartentor in Deckung ging und den Auslöser für die Sprengung betätigen wollte, spürte er eine schwere Hand auf seiner bloßen Schulter. Er schreckte hoch und stierte in die ernsten Gesichter einer Polizeistreife.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Der Indianer hat versucht, das Finanzamt in die Luft zu jagen! Das Bedauern darüber, dass er seinen verwegenen Plan nicht in die Tat hatte umsetzen können, war allerortens größer als das vorgespielte Entsetzen. Natürlich landete der Sonderling hinter Gittern, für eine dermaßen an die Freiheit gewohnte Seele schier unerträglich. Das Amtsgericht setzte die Verhandlung auf den nächstmöglichen Termin fest. Der Verteidiger des Delinquenten war ein noch sehr junger Rechtsanwalt, ein liebenswerter Schlingel mit einer eher unorthodoxen Rechtsauffassung. Er paukte den ungewöhnlichen Mandanten frei, wobei allerdings in Kauf genommen werden musste, dass diesem der „Jagdschein“ verpasst wurde, also die Attestierung eines leichten Dachschadens.

Zwar befand sich der Indianer wieder auf freien Füßen, Frau Boentner-Strehlingen tat allerdings ihr Möglichstes, ihm mit ungezählten Mahnungen und Strafandrohungen bezüglich seiner Steuerschulden das Leben zu vergällen. Es sah ganz danach aus, als würde der Sonderling in Bälde wieder hinter Schwedischen Gardinen landen. Doch Hilfe war bereits auf dem Weg!

In der ungewöhnlichen Kneipe Kuckucksnest am Bahnhofsberg, einem Tummelplatz der Unangepassten, Außenseiter und linksgrünversiffte Gutmenschen, stellte man Sammelbüchsen für den Indianer auf, der nach seiner missglückten Tat in „Bombenleger“ umbenannt worden war. Von alles andere als gut betuchten Schnitzschülern und Studenten angefangen bis hin zu angesehen Geschäftsleuten entrichtete jeder mit Feuereifer seinen Obolus, rasch war die geforderte Summe erreicht und mit unverhohlener Häme an Frau Boentner-Strehlingen überwiesen. Der Indianer-Bombenleger galt seit seiner spektakulären Nacht-und-Nebel-Aktion als Held. Um dem plötzlichen Trubel um seine Person zu entgehen, zog er sich noch weiter in die tiefen Wälder rund um den Königssee zurück. Manchmal fand der Wirt vom Kuckucksnest beim Aufsperren eine schöne Adlerfeder, einen glitzernden Bergkristall, kleine Körbe mit Beeren oder Pilzen vor der Tür, kleine Gaben der Dankbarkeit.

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Bergnot (2)…

… Der Sturm stieß mir nun in den Rücken, das Blitzen und Donnern ebbte ab, aus dem sintflutartigen Niederschlag wurde Hagel, der mir schmerzhaft den unbedeckten Kopf peitschte. Noch immer war es stockdunkel. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Vielleicht dauerte dieses Inferno bereits Stunden, vielleicht würde ich das Riemannhaus niemals erreichen, vielleicht würde ich irgendwann erschöpft zusammenbrechen, ohne Hoffnung auf Rettung und Hilfe, vielleicht hatte ich diese Welt bereits verlassen und weilte nun in der Vorhölle…

… Der Hagel wandelte sich zum dichten Schneefall, der in den Senken sofort liegenblieb. Eine hauchdünne Eisschicht überzog die Felsen, wie gefährlich war das Gehen nun geworden! Von hinten kroch lautlos dicker Nebel heran und verschlang die Umgebung. Keine fünf Meter Sicht mehr. Wo war die nächste Markierung? Und wo war das Riemannhaus?…

… Lauf zu, renn, schnell, du musst fliehen! – Bleib ruhig, ganz ruhig, geh langsam und vorsichtig, Schritt für Schritt, konzentriere dich! – Nie, nie komme ich heil hier raus! Nie, nie werde ich einen sicheren Ort erreichen!…

… Der Kampf zwischen dem blinden Impuls zu fliehen und der kühlen Vernunft erschöpfte mich noch mehr als das verkrampfte und vorsichtige Tasten über die glatten Steine. Ich zitterte am ganzen Körper, meine Zähne klapperten laut, es war so furchtbar kalt, mittlerweile musste es einige Grad unter Null haben – und das im Hochsommer…

… Wo zum Henker ist das Riemannhaus! Ich reckte die Arme hoch und brüllte mit brechender Stimme: „Wo habt ihr nur diese elende Hütte hingebaut!“ Wie durch Zauberhand verzog sich für Augenblicke der schier undurchdringliche Nebel. Ich stand nur wenige Meter von den klobigen Mauersteinen des Riemannhauses entfernt…

… Köstliche Wärme umfing mich. Eine freundliche Stimme sprach mich an, ich stierte hoch, noch gefangen in dem Albtraum, den ich grade durchlebt hatte. Kundige Hände lösten meine blau gefrorenen, klammen Finger aus den Schlaufen der Bergstecken, zogen mir die schweren Schuhe aus, halfen mir aus der Windjacke, bugsierten mich in die heimelige Stube. Ich setzte mich auf eine Bank am gemütlich bullernden Kachelofen. Man drückte mir einen Steinkrug in die Hand. ich nahm einen tiefen Zug und schmeckte starken, heißen Tee, viel Zucker, Zitrone und einen ordentlichen Schuss Rum…

… Lange saß ich wie betäubt da. Endlich begann ich, meine Umgebung wahr zu nehmen. An den groben Holztischen waren Bergwanderer versammelt, lachend, plaudernd, essend, Karten spielend. Meine Blicke glitten zum Fenster hin, überrascht schüttelte ich den Kopf. Dunkelblauer, wolkenloser Abendhimmel da draußen, die Pyramide der Schönfeldspitze war von der untergehenden Sonne rotgolden überzogen. Ich stand auf und schlurfte auf die Veranda. Im Hütteneingang lehnend blickte ich auf das etwa sechzehnhundert Meter unter mir liegende Saalfeldener Tal. Dort in der Tiefe war es bereits finster, die Straßenlaternen zogen sich gleich glitzernden, verschlungenen Perlenschnüren darüber hin, der eiförmige Gipfel des links von mir hochragenden Sommersteins war purpurn vom letzten Hauch des Alpenglühens…

… Ein wildes, beinahe schmerzhaftes Glücksgefühl durchströmte mich, ich vermeinte, jede einzelne Faser meines Wesens so intensiv zu spüren wie noch niemals zuvor. Es glich einer Wiedergeburt, einer Auferstehung aus Sturm, Blitz, Donner, Eis und Schnee…

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