Zwei Tage später traf sie sich mit Commissario Rosso an der Uferpromenade. Es war trüb, die Berge wolkenverhangen, und der Nordwind führte einen kalten Hauch der nahen Südtiroler Gletscher mit sich. Sie schritten eine Weile schweigend vor sich hin, bis Rosso das Wort ergriff.
„Ihnen ist schon klar, dass Ihr Verhalten vom Montag eine interne Untersuchung nach sich ziehen wird, Tenente Bardani?“
Zizzy nickte.
„Ich denke nicht, dass man Sie degradieren und die Leitung der Carabinieri Comando Statione entziehen wird – man wird Ihren mutigen Einsatz vor zehn Jahren gegen die Hooligans in Verona und Ihr bis dato makelloses Verhalten in die Beurteilung mit einbeziehen – aber mit einem scharfen Verweis oder einer vorübergehenden Suspendierung müssen Sie rechnen. Sie haben sich sehr fahrlässig verhalten – Ihr Diensthandy nicht aufgeladen, sich nicht in der Stazione gemeldet, obwohl Sie direkt daran vorbei gefahren sind, Sie haben unbesonnen gehandelt und einen Kollegen in Lebensgefahr gebracht. Noch dazu einen Menschen, dem Sie sehr tief verbunden sind. Und das wird Sie bis ans Ende Ihrer Tage verfolgen, glauben Sie mir.“ Er blickte sie an, und in seinen grauen Augen lag eine so tiefe Trauer, dass ihr die Kehle eng wurde, und sie sich abwenden musste. „Auch wenn Sottotenente Rambolate Ihnen bestimmt sofort vergeben hat – er hat ein edles Gemüt, wie man sich in alten Romanen auszudrücken pflegte.“ Er lächelte schwach. „Aber wir haben mit Ihrer und Sottotenente Rambolates Hilfe Quimendez ausfindig gemacht und festnehmen können. Und Sie und Ihre Carabinieri haben wirklich gute Arbeit geleistet. – Die Beförderung von Sottotenente Rambolate wird sehr wohlwollend in Betracht gezogen, habe ich gehört. Und auch, dass der Leiter der Carabinieri Comando Stazione in Limone nächsten Sommer in Pension gehen wird. Ich habe zwar an sich mit euch Carabinieri dienstlich nur sehr selten zu tun, aber ich werde mal sehen, ob ich da vielleicht irgendwo ein paar Strippen ziehen kann, damit man Ihren Freund nicht ans andere Ende der Republik versetzt. Mein älterer Bruder ist Generalmajor der Arma dei Carabinieri.“
Tiziana machte überrascht große Augen. Rosso verzog den breiten Mund ein wenig.
„Wir haben nicht viel Kontakt zueinander. Leider. – Zurück zu Quimendez: Honduras hat bereits einen Auslieferungsantrag gestellt, doch ich hoffe sehr, dass unsere Regierung nicht darauf eingehen wird. – Die Anzugjacke, die Krawatte, den Hut und die Perücke, die er beim Einchecken ins Hotel San Marco getragen hat, hat man in einer Mülltonne in der Viccolo Vinzetta gefunden. Die DNA-Proben stimmen mit denen des Abstrichs überein, den man Emma entnommen hat. Er hat ihr völlig den Kopf verdreht und sie willenlos gemacht. – Mit viel Liebe und einer guten Therapie wird dieses bildschöne, liebenswerte Mädel hoffentlich eines Tages über das hinweg kommen, was ihr angetan worden ist. – Eine erste psychologische Untersuchung hat ergeben, dass Quimendez zwar eine gespaltene Persönlichkeit hat, aber zum Glück höchstwahrscheinlich nicht als schuldunfähig eingestuft werden wird.“
„Ja, den Verdacht hatte ich wohl unbewusst schon lange. Er konnte ungemein charmant sein, liebevoll, ein zärtlicher Romantiker – und innerhalb weniger Sekunden war er manchmal ein völlig Anderer – eiskalt, grob, Angst einflößend. – Er hatte mir ungezählte Male seine tiefe Liebe geschworen – und doch hat es ihn immer wieder zu diesen blutjungen Mädchen hingezogen. Vielleicht hatte er durchaus ernsthaft vor, sich zu ändern, sein altes Leben hinter sich zu lassen, doch er hat sich allem Anschein nach immer wieder davon einholen lassen.“ Tiziana fröstelte und zog ihre Jacke fester um sich. „Ich hoffe, er verbringt den Rest seiner Tage hinter Gittern. Allein für das, was er Emma angetan hat. Ihr und mit Sicherheit noch etlichen anderen jungen Mädchen und Frauen.“
„Das hoffe ich auch. – Es gibt noch etliche offene Fragen. Wo hatte er die Drogen her? War er ein Zwischenhändler? Es weist Vieles darauf hin.“ Rosso seufzte und zog die Schultern hoch. „In den Medien wird einem häufig vorgegaukelt, mit der Verhaftung eines Bösewichts sei der Fall erledigt und die Arbeit abgeschlossen. Doch damit fängt sie erst an.“
„Am Samstag vor zwei Wochen ist er mit Koffern bepackt mit dem ersten Schnellboot nach Salò gefahren. Am Abend davor muss er wohl sein Versteck in Signore Fabiosos Gartenhäuschen leer geräumt haben.“
„Wobei ihn Umberto, Signora Trettonis Botenjunge, beobachtet hat.“
Der Commissario hielt inne, wandte sich Tiziana zu und sah ihr direkt in die Augen.
„Vielleicht fragen Sie sich, woher ich weiß, dass es Sie auf ewig belasten wird, dass durch Ihre unbedachte Aktion Sottotenente Rambolate schwer verletzt worden ist. Ich habe das noch nie jemandem erzählt, und bitte, behalten Sie das für sich: Meine Frau und ich führten in Florenz lange Jahre ein glückliches Leben. Dachte ich zumindest. Bis meine Kollegen dahinter kamen, dass sie ein düsteres Doppelleben hatte und in einen florierenden Menschenhandel verwickelt war. Der Tag, an dem sie mich vor vollendete Tatsachen stellten, und ich die Wahrheit nicht mehr beschönigen und verdrängen konnte, war einer der schlimmsten meines Lebens. – Wir stellten der Gang eine Falle. Man legte mir dringend nahe, mich an der geplanten Aktion nicht zu beteiligen, doch ich blieb stur. Als wir meine Frau und ihre Kumpane in einer verlassenen Lagerhalle etwas außerhalb von Florenz hochgehen ließen, verlor ich die Beherrschung und machte im entscheidenden Moment einen Fehler. Die Sache geriet außer Kontrolle, es kam zu einem wilden Feuergefecht. Vier meiner Kollegen wurden verletzt, zum Glück nicht schwer. Aber ich – ich habe dabei meine Frau erschossen… Das ist jetzt zwei Jahre her – und es verfolgt mich immer noch. Tag für Tag. Nacht für Nacht.“
Seine Stimme erstarb und er starrte mit gerunzelten Brauen auf den nebelgrauen See hinaus. Zizzy schauderte. Sie legte ihm sanft die Hand auf den Arm. Lange standen sie schweigend am sandigen Ufer. Dann nickte er ihr ganz leise lächelnd zu und tippte grüßend mit dem Finger an seine Schläfe. „Arrivederci, Tenente Bardani. Wir sehen uns.“ Er wandte sich um und ging langsam zurück zu seinem Wagen. Sie hatte den Klang seiner schönen Baritonstimme noch lange im Ohr…
ENDE
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.