Das Navi verkündete Kathi mit angenehmer Frauenstimme, dass sie an ihrem Ziel angelangt war. Direkt vor dem schmucken Einfamilienhäuschen in einem stillen Vorort einer Stadt in Mitteldeutschland fand sie einen guten Parkplatz für ihren Kleinwagen. Sie beobachtete einige Minuten das Anwesen, ließ die beschauliche sonntägliche Ruhe ringsum auf sich wirken, dann griff sie tief Luft holend nach dem braunen DIN-A-4-Kuvert auf dem Beifahrersitz und stieg aus.
Die schmiedeeiserne Gartenpforte war unverschlossen. Kathi schritt langsam auf dem mit grauen Steinplatten belegten Weg durch den üppig blühenden und gepflegten Vorgarten. An der Haustüre angelangt zögerte sie, nun doch etwas befangen und zweifelnd, doch dann gab sie sich einen Ruck und klingelte.
Sie hörte leise schlurfende Schritte, dann wurde die Tür geöffnet. Ihr Blick fiel auf eine zierliche, klein gewachsene, unscheinbar wirkende Frau gesetzten Alters. Das etwas breitflächige Gesicht mit den großen, harmlos blickenden, blauen Augen wurde umrahmt von kurz geschnittenen, leicht gewellten, dunkelbraunen Haaren, in denen einige silberne Fäden schimmerten.
„Ja?“
Kathi musterte ihr Gegenüber kurz forschend.
„Sind Sie Frau Ella Hegenberg?“
Die Angesprochene nickte.
„Bin ich in der Tat. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Mein Name ist Kathi Willmers. Ich bin Admin des Blogs *Buntes Einerlei – kleine Alltagsgeschichten*. Sie pflegen sich im Internet Orlanda zu nennen, und Ihr Blog heisst *Orlandas Gartenträume*, stimmt’s?“
Ella wurde kreidebleich. Ihrem ersten Impuls folgend wollte sie blitzschnell die Türe ins Schloss schlagen, doch Kathi steckte geistesgegenwärtig einen Fuß dazwischen. Ella wich einen Schritt zurück. Ihre Lippen bewegten sich tonlos, abwehrend hob sie die Hände. Kathi bewegte sich ein wenig auf sie zu, bis sie im Türrahmen stand.
„Sie belästigen mich seit über einem Jahr immer wieder mit sehr beleidigenden, rufschädigenden, verleumderischen und entwürdigenden Mails und Kommentaren. – Weiß Ihr Mann Raimund eigentlich, was sie im WWW so treiben? Mit welcher Hartnäckigkeit und Bosheit Sie versuchen, Menschen, die Sie im Grunde genommen gar nicht kennen, und die Ihnen noch nie etwas zuleide getan haben, das Leben zu vergällen?“
„Ich – ich – ich… Wie haben Sie mich gefunden?“
„Mit einigen wenigen Klicks, *Orlanda*. Ihre IP-Adresse hat mir Ihren Standort verraten. Und dann war nur mehr ein klein wenig Recherchearbeit nötig, um Ihren Klarnamen und die Anschrift heraus zu bekommen. – Haben Sie wirklich geglaubt, dass Sie anonym all Ihr Gift, Ihren Hass, Ihren Neid und Ihre Hetze verspritzen können? Sie hätten für Ihre Aktionen besser das Dark Net und den Tor-Browser nutzen sollen – aber dafür sind Sie wohl nicht gerissen und clever genug. – Und jetzt würde ich gerne Ihren Mann sprechen – er ist zuhause, nicht wahr?“
Ella war der Schweiß ausgebrochen und strömte in großen Tropfen über ihr von Angst, Bestürzung und Verlegenheit starr gewordenes Antlitz.
„Nein, bitte! Tun Sie das nicht! Bitte! Es – es tut mir so unendlich leid – ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist! Ich habe das doch alles gar nicht ernst gemeint! Bitte, entschuldigen Sie! Ich nehme Medikamente, und da bin ich manchmal nicht so richtig bei Sinnen, wissen Sie! Da habe ich so extreme Stimmungsschwankungen… Ich verspreche Ihnen hoch und heilig, dass ich Sie und Ihre Bloggerfreunde nie wieder kontaktieren und belästigen werde! Bitte, bitte, verzeihen Sie mir!“
Auf der Treppe, die links neben der Eingangstür nach oben führte, wurden Schritte laut. Ein hoch gewachsener, leicht korpulenter Mann mit sehr spärlichem Haarwuchs und einer John-Lennon-Brille auf der Nase kam vom ersten Stock herab.
„Haben wir nun doch Besuch, Ellie?“
Er erblickte Kathi. Sie löste sich von den inständig flehenden Blicken Ellas und wandte sich ihm zu.
„Hallo, ich bin Kathi Willmers, eine Internet-Bekannte Ihrer Frau.“
„Aha. – Jetzt lerne ich endlich einmal eine ihrer Mitbloggerinnen kennen. Sind Sie auch eine Garten-Expertin? – Wissen Sie, mir ist das gar nicht recht, dass sich meine Frau oft so intensiv mit ihrem Blog beschäftigt, wie sie das nennt. Sie sollte sich wieder mehr der realen Welt zuwenden, unseren Kindern, Enkelchen und mir, dem Haus und dem Garten, und unseren Bekannten und Freunden.“
Aus den Augenwinkeln nahm Kathi war, wie Ella zusehends in sich zusammensackte. Einen Augenblick lang empfand sie tiefes Mitleid mit ihr. Doch dann gewann der harte Wille, ihr Vorhaben jetzt bis zum Ende durchzuziehen, wieder die Oberhand. Sie reichte Raimund das große Kuvert, das sie in der Rechten gehalten hatte.
„Wenn Sie mal wissen wollen, was Ihre Frau im Internet so schreibt, dann sollten Sie einen Blick darauf werfen, was ich hier zusammengestellt habe. Es sind sogenannte Screenshots und Ausdrucke von Mails, Kommentaren und Blog-Beiträgen, die Ella im Laufe eines Jahres mir hat zukommen lassen.“
Sie nickte den Beiden mit versteinerter Miene zu und wandte sich zum Gehen.
„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntag. Auf Wiedersehen.“
Als sie ihr Auto erreicht hatte, hörte sie, wie die Haustür laut ins Schloss fiel. Sie wischte die schweißnassen und klammen Hände an den Hosenbeinen ab, startete rasch den Motor und fuhr aus der Parklücke.
In der Stadtmitte hatte sie ein Hotelzimmer gebucht. Sie stellte ihren Reiserucksack auf das Bett, machte zur Entspannung einen ausgedehnten Spaziergang durch die schmalen Gassen der historischen Altstadt mit ihren prachtvollen Fachwerkbauten, und ließ sich dann in einem gemütlichen Restaurant ein fein zubereitetes Abendessen schmecken. Kurz vor dem Zubett gehen rief sie ihren Lebensgefährten an.
„Wie schön, du lebst noch! Wie ist es gelaufen?“
Kathi schilderte ihm ausführlich die Begegnung mit Ella und ihrem Mann.
„Gut gemacht. Hoffentlich ist diese *Orlanda* im realen Leben nicht genauso beratungsresistent wie im WWW.“
„Glaube ich nicht. Und ich denke, dass mit ihrem Raimund nach der Lektüre der Absonderungen seiner Liebsten nicht grade gut Kirschen essen sein wird.“
Als sie am nächsten Morgen ihren Laptop hoch fuhr und auf die Suche ging, war Ellas Blog „Orlandas Gartenträume“ gelöscht worden. Kathi atmete tief auf. Endlich Frieden! Der Aufwand hatte sich gelohnt. Und würde Ella ihre grausamen Spielchen doch nicht lassen können, würde sie Anzeige erstatten. Beweismaterial hatte sie schließlich genug…
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